Bärtiger Mann im Profil
  • Adolph von Menzel
  • Breslau 1815 - 1905 Berlin
  • Bärtiger Mann im Profil, um 1855-60
  • Öl auf Papier, auf Holz montiert,
  • links mit Pinsel in Braun monogrammiert: A M
  • 261 × 233 mm
Provenienz:
Privatsammlung Brüssel
Ausstellung:
Staatliche Museen zu Berlin, Alte Nationalgalerie, 2007
(als temporäre Leihgabe in der Dauerausstellung)

Noch in Menzels Todesjahr erschien das umfangreiche Werksverzeichnis, herausgegeben von Hugo von Tschudi, dem Direktor der Nationalgalerie in Berlin. Bis heute ist es nicht überholt, denn die Bearbeiter konnten sich auf eine sorgfältige Buchführung des Künstlers selbst sowie auf bereits gedruckte Vorarbeiten stützen. Zudem hatten Sie kurz zuvor für die monumentale Gedächtnisausstellung alles nur Erreichbare von Menzels Werk in der Nationalgalerie versammelt. Es entging Ihnen nur wenig, und für den ersten Abschnitt des Werksverzeichnisses (Gemälde und Oelskizzen) mussten in den vergangenen hundert Jahren lediglich ein halbes Dutzend Ergänzungen eingefügt werden. Die Jüngste ist diese bis vor kurzem in ausländischem Besitz verborgene Studie.

Sie will nichts anderes zeigen als ein Auge, einen starrenden Blick, und gibt damit mehr als ein Rätsel auf. Unzweifelhaft erscheint freilich Menzels Autorschaft; das in Dunkelheit eingesunkene Monogramm – in charakteristischer Weise einkomponiert, den linken Rand entlangsteigend – bestätigt nur, was der Augenschein vorgibt. In lässigen Zügen hat der breite Borstpinsel eine große dunkle Zone hergestellt, in der Haar und Hut, Bart und Jacke sowie Bildgrund sich durch die Stufen der Unfarbigkeit, vor allem aber durch Richtung und Länge der Bahnen gegeneinander differenzieren. Darin ein- gelagert die dichter gefügte, in wärmeren Tönen modulierte Helligkeit eines bruchstückhaften, sehr knapp angeschnittenen Gesichts. Durchweg werden Dunkles und Helles malerisch ineinandergeführt, so daß Konturen nirgends entstehen und die Form sich an ihrer Grenze zur Tiefe hin sacht rundet.

Das Ohr erscheint als bloßer Fleck, die Augenbraue, bei wucherndem Haar- und Bartwuchs(!), lediglich als grauer Schatten, als sollte von dem wachsam geöffneten, geradezu aufgerissenen Auge, dessen Iris sich bildauswärts wendet, alles Ablenkende ferngehalten werden. Denn hier verdichten sich die Kontraste, steht Schwarz hart bei Weiß. Bei näherem Besehen zeigt sich, daß ein aus dem Profil heraus zur Seite blickendes Auge kaum soviel Weiß zeigen kann; zwei leicht unterchiedliche Ansichten schmelzen also ineinander. Die bedrängende Präsenz des Auges wächst noch durch den ungewohnt engen Bildausschnitt, der, wie an den Rändern erkennbar, nicht etwa nachträglichem Beschnitt zu verdanken ist.

Abbildung 1
  • Adolph von Menzel: Selbstbildnis, 1876
  • Bleistift (Skizzenbuch 51, S. 69/70)
  • Staatliches Museum zu Berlin, Kupferstichkabinett

Vergleichbar rückt Menzel in einer Zeichnung von 1876/77 das eigene Gesicht derart fragmentarisch ins Bild, daß das hinter der ovalen Brille höchst wachsam blickende einzige Auge den geistigen Fluchtpunkt bietet. In unserer Studie aber ist es entschieden in die Peripherie gerückt, und jenseits der wüst-leeren, entgegen aller Schönheitsregel unbesetzten Mitte erwächst ihm ein ganz unähnliches Gegenstück in Gestalt des amorphen Ohrs.

Selten läßt sich der “Schock“ eines Wirklichkeitseindrucks so unmittelbar nachempfinden. Dieser wilde, anarchistenhafte Blick, der Jahrzehnte später in der Gouache Besuch im Eisenwalzwerk (1900, Berlin, Kupferstichkabinett) bei einem dem Betrachter zugewandten Arbeiter wiederkehrt; jener Blick und sein Geheimnis muß Anlaß dieser “Studie“ gewesen sein, die womöglich aus dem Gedächtnis ausgeführt wurde, als das “Modell“, eine Straßenbegegnung, eine “fugitive beauté“ im Sinne Baudelaires, längst seiner Wege gegangen war. “Erinnerung“ nannte Menzel solche pointierten Stücke, zumeist farbige Kreidezeichnungen, in denen die Überraschung eines knappen Moments nachzittert.

Über eine Datierung nachzudenken erscheint nur auf den ersten Blick überflüssig; kehrt nicht eben dieses Profil eines scharf blickenden Bärtigen mit Hut, freilich in viel geringeren Dimensionen und konkretem Handlungszusammenhang, in der großen Komposition Eisenwalzwerk (Berlin, Nationalgalerie) wieder, die Menzel 1875 im sechzigsten Lebensjahr vollendete? Erkennt man es nicht, rechts hinter der großen Walze, in der Gruppe der Arbeiter, die das glühende Eisenstück erwarten?

Abbildung 2
  • Adolph von Menzel
  • Das Eisenwalzwerk (Detail)
  • 1872-1875
  • Oel auf Leinwand, 158 × 254 cm
  • Staaliche Museen zu Berlin,
  • Nationalgalerie

So scheint es wohl. Doch bei aufmerksamerer Betrachtung verringert sich die Ähnlichkeit. Die Unterschiede in Beleuchtung und Farbigkeit erklären sich von selbst. Doch vor allem zeigt der Walzwerker ein weitaus ruhigeres, geraderes Profil mit geringeren Vor- und Rücksprüngen, und die Form der von Haar und Bart freigegebenen Wange nähert sich dem Rechteck, während die “Studie“ ein Dreieck mit einer nach rechts weisenden Spitze zeigt. Überhaupt erscheint hier die Strecke vom Auge zum Ohr überdehnt, was die Suggestion einer Nahsicht verstärkt.

So ausgiebig Menzel Studien für seine Eisenhütte, wie er das Eisenwalzwerk ursprünglich nannte, fertigte, so viele der Gestalten sich in Bleistiftzeichnungen wiedererkennen lassen, wir wissen doch nicht, wie viele jener berühmten Modellstudien für bereits vorkonzipierte Figuren “gestellt“ wurden, wieviele hingegen auf Vorrat entstanden, um nach Bedarf in die Komposition einbezogen oder beiseitegelassen zu werden. Wir können es nicht wissen, weil kein Entwurf existiert und es mutmaßlich keinen je gab. Überliefert ist vielmehr, daß das vielteilige Ganze gleich auf der großen Leinwand aufgezeichnet und, wer weiß wie getreu, farbig weitergeführt wurde. So könnte der Künstler, neben seinem frischen, zum Teil in einem schlesischen Hüttenwerk entstandenen Studienvorrat, auch einmal eine ältere Oel-“studie“ als Anregung genutzt haben.

Sobald aber die Arbeit aus dem unmittelbaren Vorfeld des Eisenwalzwerks gelöst wird, rückt sie um bis zu zwanzig Jahren zurück. Dem losen, malerischen Fluß wie dem Motiv nach hat sie ihre nächste Verwandtschaft zu den Köpfen bärtiger Männer, deren Menzel um die Mitte der fünfziger Jahre mehrere von sehr unterchiedlichem Charakter malte; ob diese wirklich immer als alte “Juden“ gemeint waren, wie einige der später gegebenen Titel lauten, kann dahingestellt bleiben. Zum Vergleich mag man etwa auf den vom 21. Februar 1855 datierten Schlafenden Mann (Berlin, Nationalgalerie) blicken: einem detaillierteren, vollständigeren und weit undramatischeren Bild, das aber dem malerischen Ausdruck nach vergleichbar ist, ebenso in der eigenwilligen Wahl von Blickpunkt und Anschnitt. [...]

Abbildung 3
  • Adolph von Menzel
  • Schlafender Mann, 1855
  • Oel auf Papier,
  • auf Karton kaschiert
  • 370 × 523 mm
  • Staatliches Museum Berlin,
  • Nationalgalerie (AI 959)

Als Malfläche diente eine ursprünglich sauber gefaste Holztafel, ein für Menzel ungewöhnliches Material, die jedoch zuvor an zwei Seiten gekürzt wurde. Die Rückseite zeigt sechs Klebezettel, vier davon unverkennbar französischer Herkunft, was auf alten französischen Besitz hindeutet. Der größte, eine Abschrift, ist recht irreführend überschrieben: “Extraits du journal: Les Beaux-Arts Illustrés et de la Gazette de Beaux-Arts d´apr[ès le] critique [...-] Dura[nty]“. Edmond Duranty, ein prominenter Verfechter des Realismus und Freund von Edgar Degas, hatte auf der auch sonst vielbeachteten deutschen Kunstabteilung der Pariser Weltausstellung von 1878 einen so starken Eindruck von Menzels Arbeiten empfangen, daß er bald darauf dem Deutschen einen programmatischen Aufsatz in der Gazette des Beaux-Arts 1880 widmete. Während der Drucklegung starb er, und aus seinem Nachlaß kaufte Degas eine Menzel-Zeichnung, eine Studie zum Eisenwalzwerk! Durantys berühmter Text galt bisher als der erste französische Menzel-Aufsatz, obwohl er darin selbst auf einen eigenen älteren Beitrag verweist. Diesem aber sind die auf der Rückseite der Holztafel befestigten Zeilen über das Eisenwalzwerk entnommen, in denen unter anderem die “weit aufgerissenen, glänzenden Augen“ der Figuren hervorgehoben werden; dieser Zug, meinte der Rezensent, deute auf die Fähigkeit des Künstlers, das soziale Milieu zu charakterisieren. [...]

Verwirrend erscheint ein anderer Aufkleber: eine aus dem Jahrgang 1879 der Zeitschrift Les Beaux-Arts Illustrés ausgeschnittene Abbildung. Sie gehörte zu einem schlicht mit Menzel betitelten Artikel von Alfred de Lostalot, einem weiteren, bisher übersehenen, frühen französischen Bekenntnis zu Menzel, der hier ohne Umwege und Einschränkung als “einer der bemerkenswertesten Künstler unserer Zeit“ gewürdigt wird. Lostalot zitiert eine lange Passage aus Durantys erstem Aufsatz. Die Abbildung aber zeigt, nach einer großzügig signierten und mit 1878 datierten Federzeichnung in der Art jener, wie sie damals von ausstellenden Künstlern als Abbildungsvorlagen eingefordert wurden, eine “Figure de l'“Usine“ par M. Menzel d`après son tableau de l´Exposition universelle“. Doch an Stelle der zu erwartenden Figur aus dem großen Bild erkennen wir unsere “Studie“ mit ihren physiognomischen Eigentümlichkeiten wieder, nur nach oben und unten hin vervollständigt und mit detaillierterer Darstellung des Ohres. Wie ist dies zu erklären? Vielleicht bat man um diese Zeichnung erst nachträglich, als das Eisenwalzwerk Berlin bereits verlassen hatte, und Menzel griff auf die nächstbeste Vorlage zurück; doch kann dies nur eine freie Mutmaßung sein. [...]

Claude Keisch

(Aus einem noch nicht abgeschlossenen Aufsatz)
Für Nachforschungen in der Bibliothèque Nationale in Paris dankt der Verfasser
Edouard Dumont de Lignières.

Abbildung 4
  • Rückseite Katalog-Nr. 4