Gabriele Münter, die bekannte Malerin des „Blauen Reiter“, war auch eine sehr begabte Graphikerin, die ihre Bildideen in ein klares Liniengerüst umzusetzen wußte. Ihre Fähigkeit, die Eindrücke der äußeren Welt in einfachen, umrißhaften Strukturen zu erfassen, kann geradezu als ein Grundelement ihrer Kunst bezeichnet werden. Für ihre weit bekannteren Arbeiten in Oel führte sie selbst sogar aus: „Wer aufmerksam meine Gemälde betrachtet, findet in ihnen den Zeichner. Trotz aller Farbigkeit ist ein festes zeichnerisches Gerüst da.“

Diese spezielle Begabung der analytischen Gliederung eines Bildeindrucks durch Linien und Flächen, die mit den revolutionären Neuerungen der modernen Kunst nach der Wende des 20. Jahrhunderts in Einklang stand, ließ Münter zu einer herausragenden Zeichnerin der Klassischen Moderne werden.

Zugleich prädestinierte sie dieses Talent auch für druckgraphische Techniken, wie die beiden frühen Arbeiten von 1907 aus der hier vorgestellten Kollektion exemplarisch belegen. Die Gouache „Herbst in Sèvres“, weiß auf dunklem Grund, bereitet den höchst diffizilen, gleichnamigen Farblinolschnitt vor, einen jener Drucke, mit dem Münter es in ihrem Pariser Frühwerk zu erstaunlicher Meisterschaft brachte. Der ebenfalls in Sèvres entstandene Farblinolschnitt „Kandinsky am Harmonium“, in dem sie das Wesen ihres Lebensgefährten charakteristisch erfaßt, gehört zu den extrem seltenen, herausragenden Werken ihrer frühen Druckgraphik und existiert nur in wenigen Abzügen (Kat. 1,2).

Die meisten der folgenden Aquarelle und Pinselzeichnungen sind der Landschaft ihres geliebten Voralpenlandes um Murnau und Garmisch-Partenkirchen gewidmet, in das sie nach den Jahren des „Blauen Reiter“ und der schmerzlichen Trennung von Kandinsky während des Ersten Weltkrieges Anfang der 1920er Jahre zurückgekehrt war. Charakteristisch ist für sie das feste zeichnerische Gerüst, mit dem sie die Motive jeweils als großzügig gesehene Summe von Eindrücken zusammenfaßt. Diese Linien geben mal zarter, etwa in „Morgenschatten“ (Kat. 3) und „Blick über den Staffelsee“ (Kat. 6), mal kräftiger und expressiver wie in „Landschaft mit Hof“ (Kat. 5), „Zwei Bäume im Moos“ oder „Murnau zur Erntezeit“ (Kat. 7,8) den geheimen Rhythmus der ausdruckstark kolorierten Kompositionen vor, - in einer Weise, die an Kandinskys schöne Huldigung an Münters Kunst denken läßt: „deine wiegende Linie und dein Farbensinn“.

Ein anderer früher Interpret, der progressive Museumsdirektor Gustav F. Hartlaub, hat mit Recht hervorgehoben, daß im eigentümlich Ganzheitlichen von Gabriele Münters Zeichnungstil ein Charakteristikum der Moderne seinen Ausdruck gefunden hat.

Annegret Hoberg
(Kuratorin für die Sammlung des „Blauen Reiter“ und das Kubin-Archiv im Lenbachhaus, München)

Die Provenienz dieser beispielhaften Gruppe von Arbeiten auf Papier, charakteristisch für Gabriele Münters unterschiedliche Schaffensperioden, läßt sich unmittelbar auf die Künstlerin selbst zurückverfolgen, denn alle Blätter stammen ehemals aus ihrem persönlichen Nachlaß. Die meisten Aquarelle tragen rückseitig den Stempel der Gabriele Münter- und Johannes Eichner-Stiftung (nicht in Lugt).